Die Alsterpiraten – eine Hamburger Geschichte

Ihr Hausboot lag schon auf der Höhe des Uhlenhorster Fährhauses, als der NRV noch an der Lombardsbrücke logierte. Sie besaßen bereits Piraten-Dinghys, ehe die gleichnamige Klasse überhaupt erfunden war. Und sie segelten Regatten des NRV mit, bevor dieser eine eigene Jugendabteilung hatte. Sie waren schon zu Beginn dieses Jahrhunderts ein einziges Reizwort und sind es noch immer: Alsterpiraten.

Genau 30 Jahre nach Gründung des NRV, also in folgenschweren Generationsabstand, wurde der „Alster-Piraten-Club“ gegründet. Carl-Vincent und Richard Krogmann hatten 1898, voller pubertärer Phantasie, gemeinsam mit Otto und Werner Reimers sowie Edward Booth eine Art Wasserbande formiert. Die besseren Söhne wollten die Freizeit auf dem Wasser kultivieren – in väterlichen und bald in spendierten, eigenen Booten. Überlegenheit war Ziel, Unterlegenheit Ansporn, Provokation diente der Standortbestimmung. Dieser Standort war schnell stadtbekannt. Nach Vätersitte hatten die Alsterpiraten am Anfang dieses Jahrhunderts bei Großmutter Laeisz und anderen Senioren eine Zeichnungsliste kursieren lassen, um für ein Hausboot zu sammeln: 2000 Mark kamen für ein schmuckes Hausboot zusammen.

Fortan und bis zum Zweiten Weltkrieg lag es an zwei Pfählen vor dem Harvestehuder Weg, vis-a-vis dem Uhlenhorster Fährhaus und war mit Fachwerkseiten, weißen Geländern, Geranien vor den Fenstern und von Booten umlagert eine schöne Auffälligkeit. Wenn mal nichts los war, dann wurde übungshalber eine Startkanone an Deck gezündet und der Gartenfrieden rundum gestört. Unterm Dach wurde getagt, satzungsgemäß in freier Rede palavert, geraucht und offiziell Tee getrunken, ansonsten auch manch anderer Schluck genossen. Bei den „offenen Nachtregatten“ war es Bowle. Es war kein Haufen, der da zusammenhielt, sondern ein Club mit variabler Satzung, Selbstbewusstsein und einem Energieüberschuss, der in hitzigeren Fällen seine Abkühlung in der Alster fand. Baden war verboten, aber immer üblich, das gegenseitige Teichen tägliches Ziel und größtes Vergnügen. Generationen von NRV Vorständen haben sich mit diesen protegierten und „obstinaatschen“ Alsterpiraten auseinandersetzen müssen, wobei Adolf Burmester, Präsident für 26 Jahre, eine entscheidende Weiche stellte.

Denn Burmester sah dem Herrenclub des NRV interessante Begabungen zuwachsen und drängte Vater Krogmann. die Junioren zu überzeugen, ein Höchstalter für Alsterpiraten einzuführen. Seitdem hat bis heute ein Alsterpirat seine Segellust und seinen Übermut im APC schleunigst bis zur Weihnachtssitzung des 21. Lebensjahres auszutoben, danach wird er Oberpirat. Vorzugsweise im NRV, und darf wie der erste Alsterpirat Krogmann es ausdrückte, zahlen und den Mund halten. Das eine tun alle Ehemaligen zumeist vorbildlich, das andere tun sie tunlichst nicht. Doch die Selbstverwaltung der aktiven Alsterpiraten bleibt unantastbar.

Doch nicht nur Oberpiraten, wohlwollende Väter und der Einfluss alsternah residierender Familien bescherten dem APC Unabhängigkeit, Hausbootfreiheiten und gesunden Kassenstand, es waren vor allem seglerische Leistungen. Die Doppelmitgliedschaft in verschiedenen Jugendabteilungen anderer Vereine nicht nur des NRV, machte viele offizielle Meldungen und Siege von Alsterpiraten möglich. Sie, die Alsterpiraten, hatten im Ersten Weltkrieg als einzige die Alster und Elbe unsicher gemacht, Pfingsttouren auf der Oberelbe veranstaltet und so einen kleinen Erfahrungsvorsprung vor den Kriegsheimkehrern.

Das spornte an Eddy Beyn, Walter von Hütschler, Ernst Oscar Ahlers, Herbert lIIies, und mehrere des Namens Schlubach und Grau sind erfolgreiche Seglernamen, auf die der APC in den Zwanziger Jahren stolz ist. Er denkt sogar laut über sich selbst als Vorsitzenden nach, verwirft aber den Gedanken, weil dann ein „Volljähriger“ das Kommando hätte. Das beobachteten sie zu Genüge von ihrem Hausboot aus beim gestrengen Betrieb der Yachtschule Admiral von Hipper am Reichsteg nebenan. Dort trat die national gesonnene Jugend an, war ein Hamburger KYC-Ableger und ließ sich seemännisch in Matrosenuniform von einem ehemaligen kaiserlichen Seeoffizier zu Langfahrtseglern trimmen. Alsterpiraten waren Regattasegler, nur zu Pfingsten war man Tourensegler, was manchem Dorffrieden nicht bekam und was das Heimgesuchte und gründlich provozierte „Happytown“ alias Glücksstadt Jahr für Jahr bitter beklagte.

Mancher hat sein Anwärterjahr bei den Alsterpiraten, den Hausboot- und den Hilfsdienst am Steg, die Übermutproben bei der endgültigen Aufnahme in diesen Freundeskreis amüsiert absolviert oder aber frustriert nicht bestanden. Noch heute sind sie voll schikanöser Kreativität und fördern Legenden.

1929 wurde dieser APC sogar Vorbild für Schwestern und Freundinnen („Piratenmädels“), die erstmals eine Damenregatta „ohne Jungen“ segelten. Sie verlief für Barbara von Eicken, Erika Westendarp, Lene Wolf und Karin Hoeck (als erfolgreichste NRV- Seglerin und später verheiratete Wiebel mit dem Ehrennamen „Speedy Granny“ gewürdigt) so erfolgreich, dass die Segelgirls im gleichen Jahr beschlossen, einen eigenen Verein neben den Piraten zu etablieren. Sie nannten sich selbstironisch Alsterratten und führen seitdem ein bescheideneres, im Ehrgeiz maßvolleres aber respektables Eigenleben neben den Alsterpiraten, die ihnen sportlichen und auch sonst herzlich zugetan waren und sind. Beziehungen sind alles in Hamburg, und jene des APC zum NRV an der Lombardsbrücke waren ganz spezielle.

Von 1912 bis 2010 ist jeder NRV Vorsitzende, bis auf Manfred v. Schröder, ein Oberpirat. Als der NRV 1932 sein drittes Clubhaus an der schönen Aussicht bezieht, liegt dem Vorstand aus Oberpiraten das vertraute alte Hausboot genau gegenüber. Natürlich erregten die schwer zu bändigenden und durch Segelerfolge so unangreifbaren Alsterpiraten den Argwohn der Gleichschalter im Dritten Reich. Plötzlich war der APC juristisch nicht mehr existenzberechtigt. All die Drahtzieherei von NRV-Vorstand und Oberpiraten verhinderte nicht, dass 1938 die Umwandlung in eine Marine-HJ-Schar drohte. Durch Selbstauflösung kam der APC dem zuvor und schluckte die braune Kröte, fortan innerhalb der Jugendabteilung des NRV, dem MHJ-Stamm 202, formell anzugehören. Auch die Yachtschule Admiral von Hipper wurde nach Selbstauflösung vom NRV übernommen.

Augenzwinkernd aber wurde Alsterpiratentradition bei “Traditionsabenden“, auf Tanzfesten und im Gehabe weitergepflegt. Selbst HJ Führer, die nicht aufpassten, mussten versehentlich „zu Bach“, erst recht, wenn wieder mal eine Swing-Party durch HJ-Kontrolle aufgeflogen war. Das Grammophon mit der artfremden Musik war sogar auf den Walbooten, ein Hipper-Erbe, dabei. Wenigstens blieben die noch nicht eingezogen oder zur Flak beorderten, nur offiziell nicht mehr organisierten Alsterpiraten die Paradesegler bei den wenigen Kriegsregatten, hielten mit vervielfältigten Feldpostbriefen Kontakt und erlebten ein Desaster, das jede Zukunft auszulöschen schien.

Das hoffnungsvollste Phänomen des Piratenelans blieb aber auch nach 1945 wirksam: Selbstorganisation und Tatendrang. Die ersten AP-Heimkehrer enttrümmerten das NRV Gelände und verbreiterten mit Schutt heimlich das Ufer, vermissen ihr Hausboot sehr und segeln von fremden Stegen und eigenen Gartengrundstücken aus. 1948 spendet die umgetaufte Vereinigung der Oberpiraten e.V. anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums 10000 Mark für einen Jugendraum im wiederaufgebauten NRV- Haus und macht damit die Alsterpiraten wieder heimisch. Der NRV seinerseits beschließt 1949 unwidersprochen, seine gesamte Jugendabteilung, 20 Mitglieder waren es 1949, fortan „Alster Piraten“ zu taufen (die Alsterratten formierten sich erst 1956 wieder, wurden in die weibliche Jugendabteilung aufgenommen und „einstimmig als solche anerkannt“).

1950 hieß es zwar noch, der Nachwuchs habe dem Namen der Alsterpiraten in allen Punkten wie diversen Bachen, Scheunentore aushängen usw., alle Ehre gemacht“, inzwischen aber zählt längst sportliche Leistung. Das Reservoir der zur Jugendabteilung verallgemeinerten Alsterpiraten speist fortan wieder einmal den NRV, sie räumen auf allen Nachkriegsregatten wie beim Jugend-Seglertreffen auf der Schlei oder auf Travemünder Wochen geradezu unbescheiden Preise ab. Genervte Gegner werden knapp beschieden: “lhr könnt ja um die zweiten Plätze segeln!“ Eine regelrechte Talentschmiede hämmert für das nächste Jahrzehnt Namen wie Heiner IIlies, Peter Schaernack, Hans-Joachim Fritze, Gunther Persiehl, Ralph Schilling und Uwe v. Below ins Bewusstsein, 1957 wird Alsterpirat Ulli Libor mit der Alsterratte Hedi Fischer in der Piraten-Jolle Deutscher Jugendmeister, 1964 werden Libor und Schulz-Heik im FD und auch Joachim von Alt-Stutterheim im Finn-Dinghy Deutsche Meister. Die Alsterpiraten feiern sich. Schon 1919 hatten Alsterpiraten einen Club an der Alster gegründet, um Hockey spielen zu können, 1994 feiert er als Hamburgs zweiter sportlicher Gesellschaftsclub sein 75. Jubiläum. 1999 wurde dann mit einem großem Ball das 100. Jubiläum zelebriert. Peter Widenmann, zu dieser Zeit der Sprecher der Oberpiraten, hat in mühevoller Arbeit ein wunderbares Buch über die Alsterpiraten organisiert.

Ihre „Windhosen“ waren die begehrtesten Kostümfeste der Saison. Kurze Zeit ist der Siegerhinweis „‚NRV/ AP“ üblich und macht stolz, lediglich die Oberpiraten sind eher besorgt. Immer häufiger greift der NRV von 1958 an die Aufnahmeprozedur der großen, von Obmännern kontrollierten Jugendabteilung ein, die den Alsterpiraten-Konsens pflegen will und mit verordneten Aufnahmen nichts anfangen kann. 1979 wird nach vielen Missverständnissen die Jugendsatzung wieder geändert und die Alsterpiraten der alte Sonderstaus zuerkannt: Eine besondere Traditionsgruppe innerhalb der „normalen“ Jugendabteilung zu sein, die sich selbst verwalte und ergänzt. Ein wachsames Auge als Traditionspfleger und Sponsor hat künftig der Förderverein der Oberpiraten, der den jeweiligen aktiven Alsterpiraten das Farbentragen, die Identifizierung mit Stander und Ritualen und das geförderte Segeln bis zum Widerruf gönnt. Eine Drohung mit Auflösung war nur einmal nötig und hat 1971 Wunder gewirkt.

Die Alsterpiraten halten seitdem ihre Gruppe klein und reizen die Freundschaften aus. Clubjacke bei offiziellen Anlässen, Strohhut bei Stiftungsfesten und viel Unfug, den Oberpiraten stillschweigend bezahlen, wenn er ins Geld geht, all dies sind zwar Privilegien, aber sie müssen aber sie müssen mit Segelleistungen verdient werden. 1987 gelingt es erstmals einer 420er-Mannschaft von Alsterpiraten, in den D- Kader zu kommen. Im 95. Jahr seines Bestehens muss der APC den Kompromiss zwischen Sport, Spaß und bester Tradition finden. Anno 1989 schließt ein Alsterpirat den Rechenschaftsbericht: „Das offene Geheimnis des Alsterpiraten – Clubs ist:

Der starke Zusammenhalt, die Freundschaft und die gemeinsamen Interessen an Segeln, Bier und Liebschaften.“

Oberpirat C.H. Illies hörte es zwar gern, dass der APC es wie die Altvorderen hielt, mahnte aber auch die 244 Oberpiraten des Jahres 1993: „Die Tradition muss die Flamme sein, die Begeisterung entzünden kann. Es nützt nichts, die Asche aufzuheben!“. Die unveränderte Alsterpiraten – Flagge von 1898 erinnert daran: Die Fackel darin ist nach wie vor ihr Symbol für seine ansteckende Wirkung.

Auf die Alsterpiraten ein dreifaches Hipp Hipp Hurra…

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